Von Rechtsanwalt Oliver Hattig
Einschränkungen des Wertungsprogramms können vom Auftraggeber im Nachhinein nicht mehr eingeführt und geltend gemacht werden. Das hat die Vergabekammer (VK) Bund im Beschluss vom 10.6.2020 (VK 2-15/20) entschieden. In dem konkreten Fall ging es um die Vergabe eines Rahmenvertrags über Bewachungsleistungen für systemrelevante Infrastrukturen. Zuschlagskriterien waren der Preis (Gewichtung: 40%) und die Qualität der Leistung (Gewichtung: 60 %). In den Vergabeunterlagen wurden die qualitativen Zuschlagskriterien und Unterkriterien im Einzelnen festgelegt und beschrieben.
Zur Erklärung der Bewertung war dort ausgeführt: "Der Bieter erhält die volle Punktzahl, wenn er einen Objektverantwortlichen einsetzt, der in in den letzten 10 Jahren mindestens 5 Jahre Berufserfahrung als Objektverantwortlicher in der Bewachung (...) Liegenschaften oder vergleichbarer ziviler kritischer Infrastruktur besitzt und (...) belegt." Die halbe Punktzahl sollte ein Bieter demnach erhalten, wenn er "einen Objektverantwortlichen benennt und einsetzt, der in den letzten 10 Jahren mindestens 3 Jahre Berufserfahrung als Objektverantwortlicher in der Bewachung (...) Liegenschaften oder vergleichbarer ziviler kritischer Infrastruktur besitzt und (...) belegt. Was unter "kritischen" Infrastrukturen zu verstehen sein sollte, war jeweils in einer Fußnote erläutert. Demnach waren Infrastrukturen dann als kritisch anzusehen, wenn sie gemäß der "KRITIS-Strategie" für die Funktionsfähigkeit moderner Gesellschaften von wichtiger Bedeutung sind und ihr Ausfall oder ihre Beeinträchtigung nachhaltige Störungen im Gesamtsystem zur Folge hat.
Die spätere Antragstellerin gab in ihrem Angebot an, dass der von ihr benannte Objektverantwortliche in den letzten zehn Jahren über mehr als fünf Jahre Berufserfahrung als Objektverantwortlicher in der Bewachung (...) Liegenschaften oder vergleichbarer kritischer Infrastruktur verfüge. In einem beigefügten Referenzschreiben wird dem Objektverantwortlichen attestiert, seit über zehn Jahren für die Bewachung für die Liegenschaften eines Krankenhauses fungiert zu haben. Die Antragstellerin lag beim Zuschlagskriterium Preis auf dem ersten Platz. Wegen der besseren Bewertung bei dem qualitativen Zuschlagskriterium erhielt ein Konkurrent jedoch eine höhere Gesamtpunktzahl; ihm sollte daher der Zuschlag erteilt werden. Die Antragstellerin hatte nicht die höchste Punktzahl erhalten, weil aus Sicht der Auftraggeberin "das beigefügte Referenzschreiben die Tätigkeit lediglich in einem Krankenhaus wiedergibt und nicht in einer vergleichbaren zivilen, kritischen Infrastruktur." Gegen ihre Nichtberücksichtigung richtete sich der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin. Sie machte geltend, dass das von ihr vorgelegte Referenzschreiben des Krankenhauses in vollem Umfang den Anforderungen entspreche.
"Die Vergabestelle setzt sich in Widerspruch zu den Vergabeunterlagen!"
Der Nachprüfungsantrag hatte Erfolg. Eingangs stellt die Vergabekammer klar, dass die Zuschlagskriterien gemäß § 127 Abs. 1 Satz 2 und 4 Satz 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) so festgelegt und bestimmt sein müssen, dass die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleistet wird, der Zuschlag nicht willkürlich erteilt werden kann und eine wirksame Überprüfung möglich ist, ob und inwieweit die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllen. Die Auftraggeberin habe hier die Wertung des Angebots des Antragstellers beim Zuschlagsunterkriterium Qualität mit null Punkten damit begründet, dass ein Krankenhaus keine vergleichbare zivile, kritische Infrastruktur sei und die dortige Tätigkeit daher nicht die zu bewertenden Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln könne. Damit setze sich die Vergabestelle in Widerspruch zu den Vergabeunterlagen, denen diese einschränkende Auslegung nicht zu entnehmen sei. Welcher Erklärungswert dem Inhalt von Vergabeunterlagen zukommt, sei nach den für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen (§ 133 und § 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches, BGB) zu ermitteln.
"Im Nachhinein können Einschränkungen des Wertungsprogramms nicht mehr eingeführt und geltend gemacht werden!"
Maßgeblich für das Verständnis sei dabei der objektive Empfängerhorizont des von der Ausschreibung adressierten Bieterkreises entsprechend fachkundiger Unternehmen. Ein Krankenhaus falle jedoch unter die in den Vergabeunterlagen angegebene KRITIS-Definition. Die von der Auftraggeberin vertretene einschränkende Wertung, dass ein Krankenhaus grundsätzlich nicht im Rahmen des Zuschlagskriteriums anerkannt werden könne, stehe in deutlichem Widerspruch zu dieser Definition, die ausdrücklich in den Vergabeunterlagen vorgegeben worden sei. Ein Beschränkung des Wertungsprogramms lasse sich auch ansonsten nicht den Vergabeunterlagen entnehmen. Die einschränkende Wertung sei daher nicht in konsistenter Anwendung der bekannt gemachten Zuschlagskriterien unter Beachtung des Transparenzgebots gem. § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB vertretbar. Zur Gewährleistung eines transparenten Bieterwettbewerbs hätte die Vergabestelle weitere differenzierende Anforderungen aufstellen müssen - was sie jedoch nicht getan hatte. Im Nachhinein könnten Einschränkungen des Wertungsprogramms nicht mehr eingeführt und geltend gemacht werden. Denn jeder Bieter sei gehalten, sich an die bekanntgemachten Zuschlagskriterien zu orientieren und auf dieser Grundlage ein wettbewerbsfähiges Angebot zu erstellen.